We cannot understand all the decisions the people we love make, but we can accept that they had their reasons.
Stellt Euch vor, Ihr seid mit netten Leuten auf einer tollen Reise, z. B. im Iran, während ein Familienmitglied verzweifelt versucht, Euch auf dem Handy zu erreichen. Zurück zu Hause, findet Ihr mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter vor und müsst schockiert feststellen, dass man glaubt, Ihr habt Euch etwas angetan, weil Ihr nicht ans Handy gegangen seid. Als Archäologin verschwinde ich öfter mal für einige Wochen oder Monate in der Pampa, und meine Familie ist das eigentlich gewöhnt. Dass man plötzlich Schlimmstes vermutet, liegt einzig an dem Selbstmord meines Vaters letztes Jahr. Und daran, dass ein Selbstmord weitere inspirieren kann. Oder vererbbare psychische Probleme möglicherweise die Ursache sind. Vor allem aber, weil gemeinhin angenommen wird, dass der Freitod eines Menschen für seine Angehörigen sehr viel schlimmer zu ertragen sei als ein natürlicher Tod. Für mich dagegen ist diese Todesursache leichter zu akzeptieren. Auch wenn es paradox klingt.
Imagine yourself being abroad, let’s say on an exciting trip to Iran with inspiring people, without any mobile phone connection, not knowing that a family member is trying to reach you. Upon arrival back home, you find several messages on your mailbox, and you are shocked to discover that you are believed to have been violent towards yourself, because you did not answer the phone. Since I am an archaeologist, I regularly disappear from the screen for some weeks or months, and my family is actually used to that. Now the only reason why people suddenly assume I could be suicidal, is because my dad killed himself last year. And because one suicide can cause more suicides within a peer-group, or because heredetary mental illnesses could have been the cause. But mainly because suicide is generally considered „worse“, and therefore more difficult to deal with than the natural death of a beloved person. For me, however, it was easier to accept, even though this might sound paradox.
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„Oh nein, und dann auch noch SO?“ Das ist die Reaktion der meisten Menschen, wenn ich vom Tod meines Vaters erzähle. „So“ – das meint Suizid. Mein Vater ist am 2. Mai letzten Jahres losgegangen, um sich das Leben zu nehmen. Er wurde noch vor seinem Tod gefunden und zwei Nächte lang künstlich am Leben erhalten; es wäre also nicht gelogen, wenn ich sagte, mein Vater sei gestorben. Ich will es so aber nicht sagen, denn für mich entspricht das nicht der vollen Wahrheit.
„Oh god, he did it himself?“ Most people are shocked to hear that my dad did not die naturally but committed suicide: On May the 2nd last year, he left his house to kill himself. He was found before his death, brought to the hospital and kept alive for two more nights. So I wouldn’t be lying if I said he died, but I do not want to put it like that because this is not the whole truth.
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Wenn sich Prominente, wie letztes Jahr Robin Williams, das Leben nehmen, ist das Thema Suizid in aller Munde. Das dauert ein paar Wochen an, und dann ist wieder Ruhe. Dabei sind so viele Menschen von Suiziden in ihrem Umfeld betroffen. Das weiß ich, seit ich angefangen habe, darüber zu sprechen; erst dadurch haben sich etliche Freunde getraut, mir von Eltern, Verwandten oder Freunden zu erzählen, die ihr Leben selbst beendet haben.
At least if prominent persons like Robin Williams kill themselves, everyone is talking about suicide for some weeks. Then the voices fall silent gaian, even though so many people have to deal with suicides of friends or family members. This is not only what the statistics told me, but also what I experienced: Only when I started talking about my dad’s suicide, my friends opened up and told me their own stories.
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Es ist leicht, einem „Selbstmörder“ Egoismus und Feigheit vorzuwerfen. Schon der Begriff Selbstmord impliziert einen Vorwurf, siedelt die Tat im Kriminellen an. Einfach gehen und die anderen mit ihren Problemen alleine lassen; sich heimlich aus dem Staub machen – kann man das verzeihen? Dabei fragen die wenigsten Hinterbliebenen danach, ob diese Person sich vielleicht schon viel früher das Leben genommen hätte, wenn da nicht eben Familie, Freunde und Angehörige gewesen wären. Ob sie nicht vielleicht schon seit Jahren mit dem Leben gehadert, mit dem Gedanken an Suizid gespielt, sich aber immer wieder zusammengerissen hat. Für uns.
It is easy to call a suicide victim selfish and cowardly: They just go and leave us alone with our problems. But what if they made it that long just for us? Maybe they would have killed themselves much earlier if there weren’t friends and relatives? Maybe they had been pulling themselves together for a long time despite the urge to commit suicide?
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Ist es nicht auch egoistisch von uns, von jemandem zu verlangen, immer für uns da zu sein? Zu erwarten, dass jemand sein eigenes Leben hinter das Unsere stellt? Die Trauer um einen Toten ist immer auch Selbstmitleid: Mitleid dafür, dass wir alleine gelassen wurden. Aber könnten wir nicht dankbar dafür sein, dass jemand es überhaupt so lange ausgehalten hat – auf einer Welt, die er nicht mehr liebte und verstand oder in einem Körper, der ihm nur noch Schmerzen bereitete? Und könnte ich nicht fragen: Wieso hätte mein Vater ein Leben weiterleben sollen, das ihm keine Freude mehr bereitete? Würden wir mit einem Menschen zusammenleben wollen, der uns zuliebe Lebensfreude vortäuscht?
Aren’t we egoistic ourselves in demanding from others always to be there for us? In expecting that others consider our lifes more important than their own ones? Mourning for someone’s death always means self-pity too. But instead of being sorry for ourselves for being left alone, we could also be thankful for the time we had together. For the time this someone had stayed alive in a world that had become unbearable or in a body that caused nothing but pain. And I could ask: Why should my dad have stayed alive, if he did not enjoy life anymore? Would we like to be with someone who pretends to have fun while secretly suffering inside?
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Aber der Suizid einer uns nahestehenden Person bringt unsere kleine Welt nicht nur durch die Trauer, Wut und Ohnmacht ins Wanken, die wir verspüren, sondern auch durch die aufkommenden Selbstzweifel. Wir machen uns selbst Vorwürfe, denken darüber nach, was wir hätten anders machen können, wie wir „es“ hätten verhindern können. Viele Betroffene erstarren in Schweigen, vertrauen sich nicht einmal engen Freunden an, halten das „Es“ wie ein schmutziges Geheimnis von der Außenwelt fern. Sie glauben, dass sie etwas ahnen, Zeichen hätten sehen müssen. Aber wer sich wirklich das Leben nehmen will, kündigt es nicht an. Das wäre schlichtweg dumm, denn natürlich würden alle Angehörigen in Panik ausbrechen und wahrscheinlich eine familiäre oder psychiatrische 24-Stunden-Überwachung einleiten.
The suicide of a beloved person does not only shake our small world with grief, anger, and helplessness, but also with self-doubts. We blame ourselves, we try to think of what we could have done to prevent it. Many of those concerned fall into silence and do not dare to speak to anyone because they are ashamed. They keep „it“ away from the public like a dark secret. They believe that they should have seen it coming. But no one who really wants to commit suicide would let anyone know. How stupid this would be! Then of course everyone would try to stop them, or call the psychiatrist.
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Trotzdem meint man im Nachhinein plötzlich Zeichen zu sehen, lässt Ereignisse und Gespräche noch einmal Revue passieren, interpretiert Dinge neu. Alles scheint mit einem Mal bedeutungsschwer: Die Lieblingsschallplatte meines Vaters? „Spiel mir das Lied vom Tod“. Das Muss bei jedem seiner Städtetrips? Der Besuch des örtlichen Friedhofs. Sein Standardsatz bei jeder Rom-Reise? „Rom sehen und sterben“. Aber mal ehrlich: Ja, vielleicht hatte mein Vater ein Faible für morbide Orte – aber nicht jeder, der gerne die Grabmäler historischer Persönlichkeiten besucht, bringt sich um. Genauso wenig wie Ennio Morricone-Fans automatisch suizidgefährdet sind oder Romliebhaber, die ihre Begeisterung pathetisch zum Ausdruck bringen.
Nonetheless we believe to recognise signs afterwards. We recapitulate certain moments and reinterpret conversations. And suddenly everything seems to make sense: My dad’s favourite song: „Sing me the song of death“ (German translation of „Once upon a time in the West“); a must do on his city trips: A visit to the local cemetery; his favourite phrase when in Rome: „See Rome and die.“ But let’s be honest: Yes, my dad did love morbid locations – but this does not imply that people who enjoy visiting the graves of famous personalities – or Ennio Morricone fans or Rome enthusiasts – are potential suicide victims.
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Dass mein Vater „so“ gestorben ist – durch seine eigene Hand –, macht es für mich erträglich, weil ich weiß, dass es seine eigene Entscheidung war. Und weil ich diese Entscheidung so akzeptieren kann, denn ich glaube, kein physisch und psychisch gesunder Mensch kann nachempfinden, wie schlecht es einem Menschen gehen muss, damit er die Kraft und den Mut aufbringt, sich selbst das Leben zu nehmen. Das heißt nicht, dass ich Suizid für eine Heldentat halte. Und natürlich bin ich traurig, dass mein Vater nicht mehr hier ist; und natürlich hätte ich mir gewünscht, dass er vorsorgt und mir (uns) nicht Tausende von Euro Beerdigungskosten hinterlässt. Aber ich finde es anmaßend, darüber zu urteilen, ob ein Selbstmörder rücksichtslos und egoistisch gehandelt hat oder ob er sich nicht „nochmal zusammenreißen“ hätte können. Denn wenn jede Lebenslust und jeglicher Überlebenstrieb verloren sind, kann es schlimmer wohl nicht mehr werden.
My dad’s suicide makes his death easier for me to take, because I know that it was his decision to go. Even though I am sad that he is dead and even though I wished he had organised certain things in advance and not let me (us) pay thousands of Euros for his funeral, I respect this decision. I believe that no (physically and mentally) healthy person can imagine the pain someone has to go through to be able and willing to end their lives. This doesn’t mean that I consider suicide an admirable action. I just think we don’t have the right to call people selfish or to ask why they did not pull themselves together, because things cannot get worse if someone has lost their elan vitale.
Ich hatte vor einiger Zeit einen Herzinfarkt – und noch nie war mir bewusster, „wie schön das Leben ist“. Mein erster Blick danach aus einem eigentlich öden Krankenhausfenster auf einen grauen Tag erschien mir ganz in Rosa. Den „Freitod“ wählen (kann man ja auch sagen, statt „Selbstmord“) käme mir nur in den Sinn, wenn ich das Gefühl hätte, meine Würde zu verlieren und anderen zur Last zu sein. Ich möchte dann in meinem Rollstuhl, den ich hätte, ins Meer geschoben werden und dort untergehen. Aber vermutlich würde niemand das für mich tun. Ich könnte es auch nicht für jemand anders. Auch nicht aus Liebe. Die Schönheit des Lebens wegzuwerfen erscheint mir eine grosse Dummheit. Wenn es einen Menschen beträfe, für den ich mich verantwortlich fühle, würde ich mich schuldig fühlen, auch hätte ich vielleicht wirklich nichts ändern können.
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Unglaublich toller Beitrag! Eine komplett andere und wie ich finde sehr selbstlose Ansicht von Suiziden!
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Genau das!
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In letzter Zeit habe ich sehr viel über das Thema „Suizid“ gelesen, aber kaum einen Text, der ernsthaft und gleichzeitig unaufgeregt das Thema angeht. Besonders wohltuend empfinde ich die Distanzierung zu der im Zusammenhang mir Suizid oft und gern geschwungenen Moralkeule.
Danke für diesen klugen Text!
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Vielen Dank für diesen Kommentar, das freut mich – ich würde mir wünschen, dass ein normaler Umgang mit dem Thema gesellschaftsfähig wird.
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